„Es ist an der Zeit, Dinge beim Namen zu nennen. Es geht nicht um umfassende Mobilität, sondern um uneingeschränkte, unbegrenzte Ausbeutung“. Giorgio Tuti, Gastredner der mobifair-Mitgliederversammlung in Fulda, fand deutliche Worte für die Situation der Beschäftigten im europäischen Verkehrssektor, die all zu oft unter prekären Arbeitsbedingungen leiden. Als Präsident der Sektion Schiene in der Europäischen Transportarbeiter-Föderation ETF und Präsident der schweizerischen Gewerkschaft des Verkehrspersonals SEV kennt Tuti die Probleme der Arbeitnehmer im Verkehrsbereich nur zu gut.
Beispiele aus den Bereichen Luftverkehr, Straße und Schiene machten deutlich, dass die Probleme auf alle Verkehrsträger im grenzüberschreitenden Bereich zutreffen.
Im Luftverkehr etwa nimmt die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse derzeit rapide zu. 50 Prozent der Verträge sind laut Giorgio Tuti a-typische Verhältnisse. Er sprach von teilweise „komischen Konstrukten“, zu denen Leiharbeit, Agentur- und Kettenverträge zählen. Tarifverträge werden ausgehebelt, Arbeitgeber nutzen Hintertüren, um vorgeschriebene Regelungen zu umgehen. Beim Unternehmen Ryanair gebe es die Praxis, dass Piloten zahlen, um überhaupt fliegen zu dürfen. Oft trage das Geschäftsrisiko der Arbeitnehmer, die Arbeitgeber stehlen sich aus der Verantwortung.
Dieses „Geschäftsmodell“ ist auch bei anderen Verkehrsträgern beliebt, wie mobifair seit langem recherchiert. Kosten und Risiken werden Beschäftigten aufgedrückt, die als Schein-Selbstständige oder mit erzwungenen Gewerbeanmeldungen „auf eigene Rechnung“ als Pseudo-Subunternehmer agieren. Aber auch bei den Arbeitnehmern in Festanstellung sieht es teilweise düster aus, wie Giorgio Tuti erläuterte. Ausbeutung wird sowohl beim Straßengüterverkehr wie auch im Fernbusbereich registriert. Zu nutze machen sich manche Arbeitgeber zum einen dabei die deutlichen Lohnunterschiede zwischen den europäischen Staaten, zum anderen werden mit diversen Manövern Arbeitszeitvorschriften umgangen. Der Gewerkschafter zitierte eine österreichische Studie, nach der im Straßengüterverkehr eine durchschnittliche Arbeitszeit von 11,5 Stunden täglich üblich, die Abwesenheit von zu hause zwischen drei und 12 Wochen „normal“ ist und 95 Prozent aller Fahrer ihre Pausen und Wochenenden im Lkw verbringen. Bezahlt wird nach „Radumdrehung“, wer im Stau steht, hat Pech gehabt.
Gleiches kann man wohl von den Fernbusfahrern sagen, die zum Beispiel auf der Linie Zürich-Mailand eingesetzt werden. Wie Kollegen aus der Schweiz recherchierten, reisen die Fahrer teilweise mit dem privaten Pkw über weite Strecken an, fahren den Fernbus erst nach Mailand, dann umgehend zurück nach Zürich und anschließend mit dem Auto nach Hause. Wie gut hier die Arbeitszeitgesetze eingehalten werden, kann sich jeder leicht ausrechnen. Flixbus, sagt Tuti, sei das Unternehmen mit solchen Praktiken und stellte die Frage: „Sind diese grünen Dinger so wirklich sicher?“
Dass auch im Bahnbereich die Welt schon lange nicht mehr in Ordnung ist, machte Tuti ebenso deutlich. Angefangen mit Ausbildungen im Schnellverfahren über Personaldienstleister und Scheinselbstständigkeit bis zu Missachtung gesetzlicher Vorschriften. Mit dem Beispiel des Unternehmens Crossrail, das über eine Agentur in der Schweiz italienische Lokführer zu italienischen Tarifbedingungen für Fahrten zwischen Antwerpen und Genua einsetzen wollte zeigte er klar, dass immer neue Versuche von Lohndumping bekämpft werden müssen. Crossrail hätte mit diesem Vorhaben weit niedrigere Löhne bezahlt als in der Schweiz üblich. Nicht nur die Arbeitnehmer seien die Verlierer. „Die Allgemeinheit zahlt den Preis für unsichere Transporte“, stellte Tuti fest. „Wenn dieser ungeschützte Wettbewerb weitergeht, dann wird es gefährlich“. Arbeitszeitgesetze und europäische Richtlinien müssten eingehalten werden. Aber: „Ohne Kontrollen sind Vorschriften Makulatur“. Gemeinsam mit den politischen Verbündeten müssten Gewerkschaften und Organisation durchsetzen, dass Maßnahmen zum Schutz von Arbeitsplätzen und Arbeitsbedingungen ergriffen werden. Die ETF werde in den kommenden Monaten einen Aktionsplan erarbeiten und vorstellen, um die Erreichung dieser Ziele voranzutreiben und die Dumpingfrage systematisch anzugehen. Man sei mit den Arbeitgebern in einem sozialen Dialog, denn die notwendigen Schritte seien ebenso im Interesse der fairen und anständigen Unternehmen wie im Interesse der Beschäftigten.